Historisches Foto des Kesselhauses
Die bereits für die Gesamtanlage geltend gemachte ästhetisch beeindruckende Baumassengliederung findet sich auch bei der Einzelgestaltung der Bauten wieder. Das Kesselhaus mit den beiden vorgelagerten Kompressorenhäusern, Schalthaus, Fördermaschinenhäuser, Schachthalle mit Wagenumlauf und Wipperhalle sowie die Kohlenwäsche sind auch für sich genommen Proportionskunstwerke. Besondere Sorgfalt widmeten Schupp und Kremmer dem Kesselhaus mit vorgelagerten Kompressorenhäusern und der Kohlenwäsche. Die ehrenhofartige Situation vor dem Kesselhaus wurde mit der dadurch möglichen optimalen Anordnung der Kessel und Aggregate erklärt. Bei der Kohlenwäsche war besonders der Materialwechsel zwischen dem Stahlbeton für die Silos und dem Stahlfachwerk für die Hauptfassaden wie auch die Einfügung der Schrägbandbrücken zu beachten. Bei allen funktionalen Notwendigkeiten spürt man überall in der Proportionierung der Gebäudekuben die gestaltende Hand der Architekten.
Schupp und Kremmer orientierten sich mit dieser kubischen Ausformung der Gebäude an einem Stilelement, das in dieser Klarheit erst durch die Avantgarde-Architekten der Klassischen Moderne herausgebildet wurde. Zuerst Le Corbusier seit 1920 und nach ihm J. J. P. Oud, Otto Haesler, Walter Gropius und andere Architekten dieser Zeit entwarfen ihre Bauten als reine Kuben. Die Dächer spielten in dieser Architektur als selbständige Bauteile keine oder eine nur noch sehr untergeordnete Rolle. Die Fenster waren bündig in die Außenhaut eingesetzt, die Wände durch keinerlei Gliederung unterteilt. Die Ästhetik dieser Architektur konzentrierte sich auf die Kombination geometrischer Flächen und stereometrischer Körper und die Zuordnung der passenden Materialien. Nur in der Materialwahl unterschieden sich die Bauten von Schupp und Kremmer. Statt der weißen Architektur des Bauhauses und des Internationalen Stils war für Industrie und Bergbau der Ziegel weitaus besser geeignet, und in Kombination mit dem Riegel- und Ständerwerk des Fachwerks entstand die in ihrer Herkunft im folgenden noch genauer einzustufende spezifische Industriearchitektur des 20. Jahrhunderts.
Vollwandträger und Rahmenbinder: Ausdrucksmittel der Moderne im Stahlbau
Jahrzehntelang im 19. Jahrhundert waren Stützen und Spannwerke der Stahlkonstruktionen als Gitter- oder Fachwerkträger ausgebildet. Die klassischen Tragelemente waren in der Regel zu einer filigranen Kombination aus Winkel- und Doppel-T-Profilen und Flacheisen zusammengesetzt. Als Alternative war der Blechträger bekannt, wurde aber nur wenig verwendet. Auch der Blechträger ist ein zusammengesetztes Profil. Seine Grundform kommt dem Doppel-T-Träger nahe, vergrößert aber dessen Form, um dadurch höhere Lasten oder größere Spannweiten bewältigen zu können. Der hohe Steg des Blechträgers ist aus Stahlblech geschnittenen Steg und die Flansche sind aus Winkelprofilen angefügt. Breite Bleche brauchten Versteifungen, die als Winkelprofile auf die Bleche rechtwinklig zwischen den Flanschen aufgebracht wurden, zuweilen aber auch in Dreiecksverbänden ornamentale Unterteilungen ergaben.
Mit den Erneuerungstendenzen in der Architektur seit etwa 1900 gab es eine gerade von den prägenden Persönlichkeiten jener Zeit teils vehement vorgetragene Polemik gegen die Stahlfachwerkkonstruktionen der Vergangenheit zugunsten des Blech- oder Vollwandträgers. Peter Behrens sprach in diesem Zusammenhang von einer Überwindung des „Drahtmäßigen, Unübersichtlichen und Dünnlichen“ der überkommenen Stahlarchitektur und Walter Gropius hatte in dessen Folge in seinen Vorträgen und Aufsätzen seit 1911 mehrfach gefordert, die „wirren dünnen Eisenstäbe“ zu sammeln, um daraus breite Bänder, also Vollwandträger zu formen. Gropius führte in einem Lichtbildervortrag am Folkwang Museum in Hagen durch ein Beispiel seine Vorstellungen vor. Er zeigte die (erhaltene) Eisenbahnbrücke über den Altrheinarm bei Kleve-Griethausen von 1864 und versuchte durch eine Retusche über der Stabkonstruktion der Brückenträger zu belegen, dass eine Vollwandkonstruktion hier weitaus besser in das Landschaftsbild passen würde. Als Vorteil des Blechträgers galt auch, dass er dem gewohnten Formempfinden des Stein- und Holzbalken am nächsten kommt.
Gropius, Behrens und andere Architekten der entstehenden Moderne nutzen in ihren Bauten konsequent den Vollwandträger. Dessen Vorteile wurden auch darin gesehen, dass das Stegblech sich in allen Kurven schneiden lässt. Hier waren also Trägerformen möglich, die der traditionell gewalzte Doppel-T-Träger nicht zuließ. Bogenförmige Blechträger wurden bei vielen Bauaufgaben mit großen Spannweiten eingesetzt. Von diesen Beispielen zu den Rahmenträgern der Jahrzehnte nach 1910 ist nur ein kurzer Schritt.
Stegbleche und Winkelprofile des Blech- oder Vollwandträgers wurden im 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch lange Nietreihen zusammengefügt. Diese Nietanordnungen – so hieß es noch 1907 – seien eine Bereicherung dieser Konstruktionsform mit geradezu ornamentaler Wirkung. Dieser noch sehr an die Ideenwelt des 19. Jahrhunderts erinnernde Gedanke spielte in den 1920er Jahren keine Rolle. Der Vollwandträger war geradezu für die Anwendung der Schweißtechnik prädestiniert. Das Lichtbogenschweißen war zwar schon seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt und seit 1887 patentrechtlich geschützt, stieß aber besonders bei dynamisch beanspruchten Konstruktionen auf Sicherheitsbedenken. Erst seit Ende des Ersten Weltkriegs, nach Experimenten im Flugzeugbau mit den dort notwendigerweise hohen Ansprüchen an Gewichtseinsparungen, setzte sich das Schweißen Ende der 1920er Jahre auch im Maschinen-, Schiffs- und Stahlhochbau durch.
Die stürmische Entwicklung der geschweißten Stahlkonstruktionen im Hochbau dürfte auch durch das Beispiel Zollverein gefördert worden sein. Zollverein galt als die bis dahin größte Schweißkonstruktion in Europa. Von dem insgesamt verbauten 7.700t Stahl wurden 2.000t in der Werkstatt geschweißt. Dadurch wurde für diese Bauteile eine Gewichtseinsparung von 15% erzielt. In der Werkstatt vorgefertigt wurden die Stiele mit Ecken und die das Dach tragenden Rahmenriegel. Diese Elemente wurden dann auf der Baustelle durch Nietverbindungen aneinandergefügt.
Stahlfachwerk
Das am stärksten im Erscheinungsbild der Gebäude von Zollverein 12 wirksame, dem Betrachter nachhaltig in Erinnerung bleibende Element der Formgebung ist die spezifisch ausgebildete Fachwerkarchitektur der Fassaden.
Blick über das Schalt- und Umformergebäude auf das Fördergerüst
Den ästhetischen Reiz der Fassadenausbildungen macht wesentlich das gleichmäßige Raster des Stahlfachwerks aus. Alle Gefache haben eine Höhe von 2,0 m und zeigen in der Regel extrem längsrechteckige Formate. Nur die Eckfelder und zuweilen die Gefache neben den Fenstern weisen auch hochrechteckige Formate auf. Abweichend vom Normalfall haben die turmartige Schachthalle und das Kesselhaus vertikale Fensterbänder, wohl um die besondere Situation dieser in den Hauptblickachsen liegenden Bauteile zu unterstreichen. Zum Teil werden zur Belichtung der größeren Hallen für Kompressoren, Umformer, Fördermaschinen und die Lesebänder in der Separation große Fensterflächen in die Fassaden eingefügt. Immer sind die Fenster aber in schlanke hochrechteckige Formate unterteilt, so dass sich aus den unterschiedlichen Formaten der Fenster und Gefache ein spannungsreicher Kontrast entwickelt.
Wichtig für das formale System ist auch der konsequente Verzicht auf die sonst zu jedem Fachwerk gehörenden sichtbaren Diagonalstreben oder Andreaskreuze, die das Erscheinungsbild der Maschinenhalle der Zeche Zollern 2/4 noch so sehr prägen. Einerseits werden die Horizontalkräfte z. B. aus Winddruck aufgenommen durch die biegesteifen Rahmenbinder im Inneren der Gebäude. Wo diese nicht statisch ausreichen, wurden die Diagonalstreben als Flacheisen so in den Wandaufbau integriert, dass sie innen und außen nicht in Erscheinung treten. Teilweise befinden sich die Diagonalstreben auch in der Dachebene. Erreicht wurde mit dieser Gestaltungsarbeit ein sehr ruhiges, gleichmäßig-orthogonales Erscheinungsbild der Fassaden und überwiegend auch der Innenräume.
„Für die uralte Fachwerkwand beginnt mit dem Eisen eine neue Zukunft“, schrieb der Kunsthistoriker Alfred Gotthold Meyer 1907 in seinem Buch über Eisenbauten. Eigentlich hätte Meyer für diesen Satz schon 1907 die Vergangenheitsform verwenden können. Die Anregung zur Verwendung von Stahlfachwerk geht vermutlich auf Violett-le-Duc zurück, der 1863 diese Bauform für ein Wohn-/Geschäftshaus vorschlug. Erfolgreich wurde die Stahlfachwerkarchitektur aber für Industrie-, Ausstellungs- und Verkehrsbauten. Die 1871-72 in Noisel-sur-Marne errichtete Schokoladenfabrik Ménier ist vermutlich der erste Bau dieser Art. Ihm folgten die spektakulären Ausstellungsbauten 1878 für die Weltausstellung in Paris mit Ausfachungen in Terracotta und für die Kunst- und Gewerbeausstellung in Düsseldorf 1902 von Bruno Möhring und Reinhold Krohn. Die teilweise erhaltenen Düsseldorfer Ausstellungsbauten inspirierten zur Anlage der Maschinenhalle der Zeche Zollern 2/4 in Dortmund in gleicher Bauart von dem gleichen Architekten und Tragwerksplaner wie die Ausstellungsbauten in Düsseldorf.
Ähnlichen Rang haben einige Bauten der Verkehrsarchitektur. Leider nicht erhalten ist das Wartesaalgebäude im 1891-94 entstandenen Kölner Hauptbahnhof. Innerhalb der grandiosen, durch Bogenbinder geprägten Bahnsteighalle lebte das Material dieser Hallenkonstruktion im Wartesaalgebäude wieder auf. Die Ausfachungen waren aus Terracottaplatten und Mettlacher Verblendsteinen. Otto Wagner entwarf 1898 für die Wiener Stadtbahn zwei Eingangspavillons am Karlsplatz mit Ausfachungen aus Marmor. Auch die Haltestellen der Wuppertaler Schwebebahn (1898-1906) und einige Haltestellen der Hamburger Hoch- und U-Bahn (1906-15) sind in Stahlfachwerk ausgeführt.
In den folgenden Jahrzehnten um 1900 kam es zu einer weiten Verbreitung der Stahlfachwerkarchitektur im Industriebau. Diese Bauten waren schnell zu erstellen, konnten leicht erweitert und ggf. auch wieder abgebrochen werden. Bei Bauaufgaben mit dynamischer Belastung war diese Architektur weitaus besser dazu in der Lage, Schwingungen und Stöße aufzufangen, als die traditionellen Massivbauten. In Bergsenkungsgebieten konnten die Bauten aus Stahlfachwerk bei ungleichmäßigen Setzungen hydraulisch neu ausgerichtet werden. Mit regionalen Unterschieden gab es Industriestädte mit zahlreichen Fabriken, die im Werksinneren sehr weitgehend durch Stahlfachwerkbauten geprägt waren. Ihre vergleichsweise geringe Überlieferung ist der Vergänglichkeit und der vielfach beabsichtigten beschränkten Lebensdauer der Bauweise zuzuschreiben.
Dass die Stahlfachwerkarchitektur bis 1914 eine bereits eingeführte und von Architekten der Avantgarde benutzte Ausdrucksform war, zeigen die AEG-Turbinenfabrik in Berlin von Peter Behrens (Hoffront), der Wasserturm von Hans Poelzig von 1911 in Posen, die AEG-Montagehalle für Großmaschinen von Peter Behrens in Berlin 1911-12 und die in gleicher Zeit ebenfalls nach Entwurf von Peter Behrens errichtete AEG-Porzellanfabrik in Henningsdorf bei Berlin. Auch Walter Gropius verwendete für seine 1914 auf der Werkbundausstellung in Köln errichtete Musterfabrik Stahlfachwerkwände an den Außenwandpartien der Maschinenhalle.
Schupp und Kremmer konnten also für den Entwurf von Zollverein 12 auf ein weites Spektrum von Vergleichs- oder Vorbildbauten zurückgreifen. Für sie war das Stahlfachwerk die sachlich und gestalterisch optimale Bauweise für die Zwecke der Industrie. Mit dem Backstein bestand die Konstruktion überwiegend aus einem widerstandsfähigem Material. Das Netzwerk des Fachwerks ermöglichte die Ausbildung der Wand als dünne Außenhaut mit der Möglichkeit für großzügige Lichtöffnungen. Fenster und Türen werden eingebunden zwischen die Horizontalriegel und die Gestaltungsarbeit bezieht sich auf eine gute Proportionierung der Gefache. Alle Wand-, Glas und Türflächen sollten in einem „mathematischen Verhältnis“ zueinander stehen und die Außenwand „mathematischen Gesetzen“ folgen.
Stahlfachwerkarchitektur der traditionellen Art war durch tragende Stützen und zumeist auch queraussteifende Diagonalstäbe in den Außenwänden gekennzeichnet. Die zur Lastabtragung aus Decken und Dach dienenden Stützen waren notwendigerweise in den Abmessungen stärker bemessen als die einfachen Ständer und Riegel in den zwischen den Stützen liegenden Wandfeldern. Die tragenden Stützen waren regelmäßig aus mehreren Profilen zusammengesetzte, zuweilen durch Verbindungsbleche miteinander verbundene Elemente. Zusammen mit den nur wandbildenden Partien der Außenwand ergab sich für diese Stahlfachwerkarchitektur älterer Art ein differenziertes Bild unterschiedlicher Profilabmessungen.
Schupp und Kremmer dagegen betrachteten die Außenwand als Hülle, die dünn sein kann und möglichst viel Licht herein lassen sollte, wo die Arbeit es verlangt. Diese Vorstellung war optimal nur erreichbar durch Ausbildung der Außenwände als Vorhangfassaden.
Vorhangfassaden
Konstitutiv für Außen- und Innenarchitektur war die Entscheidung zur konsequenten Trennung von tragendem System aus schweren, überwiegend geschweißten Rahmenkonstruktionen und der davon weitgehend unabhängigen Fassadenausbildung in Stahlfachwerkbauweise. Diese beiden Konstruktions- und Formelemente prägen das Erscheinungsbild von Zollverein 12 in architektonischer Hinsicht.
Zollverein 12 unterscheidet sich von allen vorausgegangenen Stahlfachwerkarchitekturen – auch denen, die Schupp und Kremmer zuvor geschaffen hatten - durch die nahezu über alle Fassaden beibehaltene Gleichmäßigkeit der graphisch wirkenden Ständer und Riegel im Stahlfachwerk. Auch dort, wo die traditionelle Architektur Akzente setzt – im Sockelbereich, an der Traufe und an den Eingängen – wird die einmal gewählte Profilstärke und Gefachausbildungen beibehalten.
Jahrhundertelang dienten schwere und dicke Außenwände in der Architektur zur Aufnahme der Lasten aus Decken und Dach und zugleich zum Schutz vor Witterung, zur Abgrenzung von Innenraum und Außenwelt. Skelettkonstruktionen als selbständige Tragwerke für Decken und Dach boten die Voraussetzungen für eine spezielle Ausbildung der Außenwand, die nun von fremden Lasten befreit nur noch sich selbst tragen musste und in ihrer Stabilität zusätzlich durch die Primärkonstruktion unterstützt wurde. Nach verbreiteter Definition ist die derart vorgehängte Fassade eine nichttragende Außenwand, die das Skelett hautförmig umspannt und punktförmig mit der Primärkonstruktion verbunden ist. Das tragende System liegt hinter der Außenwand und tritt im Außenbild der Gebäude nicht in Erscheinung. Das Eigengewicht der Fassade und die Windlasten werden über die Einzelbefestigungen auf das eigentliche Tragwerk übertragen.
Auch wenn Skelettkonstruktionen mit Entstehung und Entwicklung der Eisen- und Stahlarchitektur an Bedeutung gewannen, war die Vorhangfassaden keine automatisch daraus folgenden Wandausbildungen. Die seit Ende des 18. Jahrhunderts aufkommenden gusseisernen Skelette besonders in der Textilindustrie und für die Speicherhäuser in den Häfen waren vielmehr noch mit den schweren, massiven Außenwänden der Vergangenheit umhüllt. Auch die leichteren Fassaden der vollständig in Eisen erbauten amerikanischen gusseisernen Montagebauten überwiegend der Zeit um 1860 waren noch stockwerksweise ausgebildet. Die auf diese mit den großen Stadtbränden von Chicago 1871 und 1876 beendete Entwicklungsphase folgenden Stahlskelettbauten wurden aus Gründen der Feuersicherheit mit umhüllten Stahlbauteilen und massiven Fassaden ausgeführt. Das in der Baugeschichtsliteratur immer wieder erwähnte frühe Beispiel für einen Skelettbau mit Vorhangfassade – das 1915 bis 1918 entstandenen Hallidie Building in San Francisco - war in dieser Zeit eine Ausnahme von den sonst konstruktiv noch traditionell ausgebildeten schweren Fassaden aus Ziegel- oder Natursteinmauerwerk.
In Europa galten lange Zeit Walter Gropius und Adolf Meyer mit den durchlaufenden Glasfeldern und besonders den vollständig verglasten Eckausbildungen für die 1911-14 entstandenen Fagus-Werke in Alfeld als die Entdecker der Vorhangfassade. Inzwischen jedoch sind eine Reihe von Vorläufern bekannt, bei denen zumindest Fassadenteile – so wie im Fagus-Werk - als über die Geschosse hinweg durchlaufende Elemente ausgebildet sind.
Als eine seine Zeit weit vorausgreifende Ausnahmeerscheinung muss wohl der 1904 durch eine Münchener Firma für die Filz- und Plüschtierfabrik Steiff im badischen Giengen erstellte Produktionsbau mit Stahlskelettkonstruktion und vorgehängter Glasfassade gelten. Drei weitere Bauten dieser Art - allerdings mit tragendem Holzskelett - folgten in Giengen 1904, 1908 und 1910, so dass dort noch vor dem Baubeginn in Alfeld eine ganze Werksanlage mit vollständigen Vorhangfassaden entstanden war. Walter Gropius muss jedoch als der zunächst wichtigste Protagonist dieser Bauweise verstanden werden. 1914 verwirklichte er seine Interpretation der Vorhangfassade bei der Werkbundausstellung in Köln. Das Bürogebäude seiner modellhaften Fabrikanlage hatte zum Hofbereich eine Glasfront, die an den Schmalseiten in halbkreisförmig vorspringenden Treppenhäusern mündete. Viel mehr noch war das 1925-26 entstandene Werkstattgebäude des Bauhauses in Dessau eine Inkarnation dieser Idee des nach innen verlegten Tragsystems und der vorgelagerten, zur Schwerelosigkeit neigenden Glasfassade. Mit den Entwürfen von Mies van der Rohe für Hochhäuser in Skelettkonstruktionen mit weitauskragenden Deckenelementen und Außenwänden als vorgehängte Glashaut von 1920/21 und 1924 war Deutschland eine Art geistiges Zentrum der Vorhangfassade geworden. In dieser Bauweise kulminierte das auf Funktionstrennung und zur provokanten Darstellung konstruktiver Unwahrscheinlichkeiten ausgerichtete Selbstverständnis der zum Bauhaus und seinem Umfeld zählenden Architekten jener Zeit. Der Verstoß gegen das traditionelle Verständnis von Architektur und die gängigen Sehgewohnheiten gehörte zum Repertoire der Avantgarde in den 1920er Jahren.
Auch Schupp und Kremmer machten sich mit den äußerst leicht wirkenden Stahlprofilen in den Stahlfachwerk der Außenwände diesen Effekt zu nutze. Zollverein 12 ist in diesem Sinne eine Art Illusionsarchitektur. Die extrem längsrechteckigen Fassadenfelder waren nur durch innen liegende Verstärkungsmaßnahmen realisierbar, und die an einigen Gebäude nicht zu entbehrenden Diagonalstäbe wurden in der Innenkonstruktion der Wände versteckt. Auch Zollverein 12 zeigt damit – wie viele andere Bauten der 1920er Jahre – ein Primat der Gestaltung, dem Konstruktion und teilweise auch die Funktion untergeordnet wurden.
Zollverein 12 und die Folgen
Für die von Schupp und Kremmer entwickelten vorgehängten Stahlfachwerkfassaden gab es einige vorab und etwa gleichzeitig ausgeführte Beispiele. Dazu gehört die 1919 mit Vorhangfassade an anderer Stelle wiederaufgebaute Ausstellungshalle der Werkbundausstellung Köln, die Turbinenhalle des Kraftwerks Klingenberg von Werner Issel und Waltar Klingenberg aus dem Jahr 1925 und die von Hans Mehrtens entworfene und 1926 bis 1928 entstandene Müllverbrennungsanlage in Köln.
Etwa gleichzeitig mit Zollverein entstanden mehrere Bergwerksanlagen in Stahlfachwerkarchitektur und dort vor allem die Kohlenwäschen auf den Zechen Recklinghausen-Süd (1927 von Alfred Fischer), Königsgrube in Bochum (1928/29 von Theodor Merrill) und Robert Müser in Bochum (1929/30 von Heinrich Struck und Josef Wentzeler). Ein Höhepunkt dieser Architektursprache im Industriebau setzte Herbert Rimpl mit den Heinkel-Werken in Oranienburg bei Berlin 1935-37. Mies van der Rohe verwendet Stahlfachwerk für die Hochschulbauten des Illinois Institute of Technologie in Chicago in den Jahren 1938 bis 1958. Diese Beispiele stellen nur eine kleine Auswahl der zahlreichen, in den 1920er bis 1950er Jahren entstandnen Stahlfachwerkbauten dar. Allerdings waren die Stahlfachwerkfassaden nicht immer als Vorhangwände ausgebildet. Neben der traditionellen Bauweise mit den regelmäßig in den Fassaden auftauchenden tragenden Ständern gab es auch Mischbauweisen, bei denen nur die Eckständer die Tragstruktur darstellten und die dazwischen liegenden Fassadenfelder die Leichtigkeit der Vorhangfassade hatten.
Fritz Schupp und Martin Kremmer und nach dem Tod von Martin Kremmer 1945 Fritz Schupp mit den Mitarbeitern der Nachkriegszeit blieben bis weit in die 1950er Jahre hinein der Formensprache des Stahlfachwerks weitgehend treu. Zahlreiche Beispiele im Ruhrgebiet zeugen davon. Erst im Verlauf der 1950er Jahre wechselte Schupp zur Verwendung großformatiger Trapezblechplatten als Fassadenelemente oder wie beim Bergwerk Sophia Jacoba und der Kokerei Zollverein zum Baustoff Beton, allerdings immer in Kombination mit Ziegelmauerwerk oder Stahlfachwerk.
Es war die gleiche Zeit, in der sich die Vorhangfassaden zu einer weit verbreiteten Konstruktionsart besonders im Bürohausbau entwickelten. Neue Materialien wie Leichtmetall und rostfreier Stahl ermöglichten neue Ausdrucksformen. Die Außenwand verlor jede Schwere, wurde leicht und transparent ausgebildet.
Die Zeit der Stahlfachwerkarchitektur ging in den 1960er Jahren zu Ende. Sie war für knapp 100 Jahre ein Ausdruck für gesellschaftlichen, industriellen und technischen Fortschritt gewesen und verkörperte besonders mit der Architektur von Schupp und Kremmer in ästhetisch brillanter Weise den Rationalisierungsgedanken in der Industrie.
Zusammenfassung
Überragende Bedeutung erhält der Zollverein-Komplex durch die Zentralschachtanlage 12. Sie ist in ihrer Gesamtheit eine technisch-architektonische Spitzenleistung der 1920er Jahre und ist ein Hauptwerk der Industriearchitektur des 20. Jahrhunderts in Deutschland.
Jahrzehntelang im 19. Jahrhundert galten Eisen und Stahl als minderwertige Baustoffe, bestenfalls geeignet für Ingenieur- und Zweckbauten oder für temporäre Zwecke. Erst Jahrhundertbauwerke wie der Eifelturm oder die ebenfalls zur Weltausstellung in Paris 1889 erbaute Galerie des Machines ebneten diesem Material den Weg zur Anerkennung. Die Faszination der großen Stahlkonstruktionen, besonders der Brücken, und die wachsende Wertschätzung von Ingenieurleistungen des 19. Jahrhunderts durch die Avantgardearchitekten der klassischen Moderne verhalfen dem Stahl zum Durchbruch und machten ihn nun seit 1900, vermehrt aber noch in den 1920er Jahren, zu einem wichtigen Ausdrucksmittel der neuen Zeit. Zollverein 12 gehörte in diesem Kontext nicht zu den Pionierbauten des Wertewandels, aber es war ein Markstein für eine besondere Ausdrucksform der Stahlarchitektur. Eine neue Interpretation des Stahlfachwerks wurde entwickelt und mit den geschweißten Rahmenbindern konsequent eine prägnante Innenarchitektur geschaffen.
Zollverein 12 gehört zur Avantgarde-Architektur der 1920er Jahre. Hier manifestieren sich wesentliche Tendenzen dieser Zeit: Konstruktivismus, Kubismus und Funktionalismus. Zollverein 12 ist keine direkte Umsetzung der weißen Putzarchitektur des Bauhauses und des Internationalen Stils. Dargestellt werden aber wesentliche Werte dieser Architektur, so dass Zollverein im erweiterten Sinne zur Bauhaus-Architektur dazuzurechnen ist.
Die von Schupp und Kremmer geschaffene Formensprache ist eine Umsetzung der technischen und ökonomischen Rationalität, der knappen Ausnutzung von Geld, Material und Arbeitskraft. Zollverein 12 ist somit als ein Symbol zu verstehen, das in einer Hochblüte der kapitalistischen Gesellschaft entstand und deren Tugenden ungeschminkt darstellt.
Wesentliche Bedeutung haben die Umbau- und Ergänzungsbaumaßnahmen aus den 1950er und 1960er Jahren. Unter Beibehaltung der alten Hüllen wurde dadurch der Schacht 12 dem neuzeitlichen technischen Standard angepasst, ohne dass die Spuren der alten Fördertechnik (Wagenförderung) vollständig verloren gingen. Die Bauten auf Zollverein 1/2/8 sind Bestandteile der Ausbauphase nach dem Krieg. Seit ihrer Fertigstellung gehören auf engem Raum drei bau- und technikgeschichtliche Typen von Förderanlagen zum Erscheinungsbild der Zeche: Doppelstrebengerüst, Einstrebengerüst und Förderturm. Erst die erhalten gebliebenen Sozialeinrichtungen auf Zollverein 1/2/8 mit Verwaltung, Kaue und Seilfahrtseinrichtungen und am Schacht 4/5/11, ergänzen das technik- und baugeschichtliche Denkmal von Weltrang im übertägigen Bereich zu einem ganzheitlichen Bergwerk.
Dieser Bedeutungsaspekt als Teil einer denkmalwerten Gesamtheit gilt auch für die Kokerei Zollverein. Die Erhaltung eines vollständigen bergbaulichen Funktionskomplexes auf engstem Raum, ist ein historischer Glücksfall, der in dieser Art an keiner anderen Stelle im deutschen Steinkohlenbergbau noch nachvollziehbar ist. Die für die Kokerei Zollverein realisierte technische Meisterschaft verweist zugleich auf die wirtschaftliche Leistungskraft Westdeutschlands, den hohen technischen Stand des Ruhrbergbaus in der Nachkriegszeit. Die baukünstlerische Perfektion in der Gestaltung verleiht diesem Denkmal über den Ensemblegedanken hinaus einen hohen Eigenwert.
Der Zollverein-Komplex in Essen ist in Technik und Architektur ein überragendes Denkmal der klassischen Moderne.
Literatur
• Bauer, Fritz: Zeche Zollverein in Essen-Katernberg, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 9,1934, S. 101-105
• Busch, Wilhelm: Fritz Schupp, Martin Kremmer. Bergbauarchitektur (= Arbeitsheft 13 Landeskonservator Rheinland), Köln 1980
• Busch, Wilhelm/ Scheer, Thorsten: Symmetrie und Symbol. Die Industriearchitektur von Fritz Schupp und Martin Kremmer, Köln 2002
• Buschmann, Walter: Zeche Zollverein (= Rheinische Kunststätten, Heft 319). Köln 1987
• Buschmann, Walter: Zeche Zollverein (= Rheinische Kunststätten, Heft 319), 2. vollständig überarbeitete Auflage, Köln 2010
• Buschmann, Walter: Zechen und Kokereien im rheinischen Steinkohlenbergbau, Berlin 1998
• Drebusch, Günter: Industriearchitektur. München 1976
• Engelskirchen, Lutz: Zeche Zollverein Schacht XII. Museumsführer, Essen 2000
• Gebhardt, Gerhard: Ruhrbergbau. Geschichte, Aufbau und Verflechtung seiner Gesellschaften und Organisationen, Essen 1957
• Geschichtswerkstatt Zollverein(Hg.): Zeche Zollverein. Einblicke in die Geschichte eines großen Bergwerks, Essen 1996
• Großmann, Joachim: Wanderungen durch Zollverein. Das Bergwerk und seine industrielle Landschaft, Essen 1999
• Hermann, Wilhelm und Gertrude: Die alten Zechen an der Ruhr, Königstein/Taunus 3. Aufl. 1981, 6. Auflage 2008
• Huske, Joachim: Die Steinkohlenzechen im Ruhrrevier, Bochum 1987
• Industriebaukunst, in: Das Werk 10, 1930, S. 437-439
• Industriebauten der Architekten Schupp & Kremmer Berlin-Essen, in: Baukunst 4, 1980, S. 99-116
• Koellmann, H.P: Fritz Schupp 1896-1974, in: Bauwelt 65, 1974, S. 1173
• Reif, Heinz/ Winter, Michael: Essener Zechen. Zeugnisse der Bergbaugeschichte, Essen 1986
• Schupp, Fritz, in: Zentralblatt für Industriebau 20, 1974, S. 321.- 21.
• Schupp, Fritz: Gedanken über den Industriebau, in: Deutsche Bauzeitung 18, 1971, S. 1741-1748
• Schupp, Fritz: Schachtanlagen im Ruhrgebiet, in: Bauen und Wohnen 12, 1957, S. 154-156
• Schupp, Fritz: Industriebauten im Ruhrgebiet, in: Der Architekt 4, 1951, S. 1-7
• Schupp, Fritz: Gestaltungsfragen beim Bau von Turmförderungen, in: Zentralblatt für Industriebau 5, 1959, S. 341-348
• Schupp, Fritz: Über das Entwerfen von Industriebauten, in: Baugilde 13, 1931, S. 1502-1509
• Schupp, Fritz: Gestaltungsfragen beim Industriebau, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 52, 1932, S. 638-643
• Schupp, Fritz: Arbeiten der Architekten Dipl.-Ing. Fritz Schupp und Dipl.-Ing. Martin Kremmer, in: Der Baumeister 41, 1943, S. 25-46
• Schupp, Fritz/Kremmer, Martin: Industriebauten, Zechen und Kokereien der Vereinigten Stahlwerke AG im Gelsenkir¬chener und Hamborner Bezirk, in: Bauwelt 22, 1931, S. 1-16
• Schupp, Fritz/Kremmer, Martin: Industriebauten im Ruhrgebiet, in: Monatshefte für Baukunst und Städtebau 19, 1935, S. 81-86
• Schupp, Fritz/Kremmer, Martin: Zechenbauten im Ruhrgebiet, in: Bauwelt 16, 1925, S. 1-5
• Schupp, Fritz: Architekt gegen oder und Ingenieur, in: Der Industriebau 20, 1929, S. 174-180
• Schupp, Fritz/Kremmer, Martin: Industriebauten der Ar¬chitekten Schupp und Kremmer, Berlin-Essen, in: Baukunst 6, 1930, S. 99-115
• Schupp, Fritz/Kremmer, Martin: Industriebauten im Ruhrbergbau, in: Der Industriebau 21, 1930, S. 93-102
• Schupp, Fritz/Kremmer, Martin: Schachtanlage im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet, in: Monatshefte für Baukunst und Städtebau 17, 1933, S. 49-56
• Schupp, Fritz/Kremmer, Martin: Die Planarbeit des Architekten im Industriebau, in: Monatshefte für Baukunst und Städtebau 19, 1935, S. 87-92
• Stiftung Zollverein(Hg.): Welterbe Zollverein. Geschichte und Gegenwart der Zeche und Kokerei Zollverein, Essen 2008
• Über die einfachwirkende Fahrkunst auf der Steinkohlenzeche Zollverein, in: Der Bergwerksfreund, Bd. 20, 1857, S. 404-411
• Tiggemann, Rolf: Von der größten Zeche der Welt zum Weltkulturerbe, Essen 2008
• Vereinigte Stahlwerke (Hg.), Die Steinkohlenbergwerke der Vereinigten Stahlwerke. Die Schachtanlage Zollverein in Essen-Katernberg, 2 Bd. o.J., o.O. (Essen 1934)
• VSt (Hg.), Zeche Zollverein 12, Essen 1935
• Zoepke: Geschweißte Konstruktionen bei den Übertagebauten einer Großschachtanlage, in: Der Bauingenieur 13, 1932, S. 297-302