Stahlwerk Becker Willich
Anrather Str. 21 (Verwaltung) – Casinostr. – Laborweg – Gießereiallee – Stehlwerk Becker – Schmelzerstraße – Walzwerkstraße – Formerweg – Maschinenhausstraße – Formerweg – Drahtzieherweg - Rohrzieherstraße




Stephan Strauß
Stahlwerk Becker

Als der bedeutende Ruhrindustrielle August Thyssen (1842-1926) für seine mit örtlichen Partnern 1900 gegründete Krefelder Stahlwerk AG im damaligen Fischeln einen jungen Managerunternehmen einstellte, dürfte er nicht geahnt haben, dass er hier einem künftigen Konkurrenten ein Sprungbrett bot. Oder besser: einem künftigen Unternehmer, der ihm in Innovation und Wagnis nachfolgen wollte, ohne jedoch die unternehmerische Bedeutung eines August Thyssen zu erreichen.

Die Rede ist von Reinhold Becker (1866 bis 1924), den Thyssen 1903 vom Düsseldorfer Roheisenverband abwarb. Dieser hatte bis dahin eine durchaus typische Laufbahn für einen damaligen leitenden Managerunternehmer im Montanbereich hinter sich: Sohn eines Düsseldorfer Bauunternehmers, arbeitete er nach dem Gymnasium kurz als Berg- und Hüttenmann und absolvierte eine kaufmännische Lehre. Nach zehn Jahren bei der Westfälischen Union in Iserlohn-Nachrodt und als Prokurist bei der Bismarckhütte in Oberschlesien war der Mittdreißiger 1902 in die Leitung des Roheisenverbands aufgestiegen (Quelle: Klotzbach, siehe Literatur).

Als Becker noch während seiner Tätigkeit in der Krefelder Stahlwerk AG, das im neuen Feld der hochfesten Stähle tätig war, seine Selbständigkeit vorbereitete, führte dies zu einem handfesten Skandal. Thyssen erstellte Anzeige wegen Betrugs, Becker kam zeitweise in Haft und wird später die Feindschaft Thyssens für die Probleme seines Unternehmens mitverantwortlich machen.

Im Oktober 1908 begründete Becker (mit finanzieller Unterstützung u.a. seiner Familie) in Willich die Stahlwerk Becker AG – wie beim Krefelder Unternehmen Thyssens zur Produktion hochfester Stähle. Ein Kapitalgeber war auch der Krefelder Bauunternehmer Anton Birgels. dessen Firma Birgels & Diepers die Willicher Werksbauten errichtete. Diese entstanden in der Nähe des Willicher Bahnhofs und verfügten somit über den erforderlichen Bahnanschluss. Becker errichtete zügig und konnte dadurch bereits 1912 eine umfangreiche Produktionsstätte vorweisen. In Willich entstanden ein Schmelzwerk, ein Hammerwerk und ein Walzwerk sowie entsprechende Weiterverarbeitungsmöglichkeiten. Ein eigenes Hüttenwerk errichtete Becker zunächst nicht, so dass er auf entsprechende Rohmaterialien angewiesen war.

Die architektonische Gestaltung der Werksanlage sollte von Beginn an repräsentativen Ansprüchen genügen und für die Neugründung offenbar die entsprechende Solidität belegen. Das parallel zum Gleisstrang liegende Firmenareal bindet an seiner nördlichen Spitze an die heutige Anrather Straße an; hier errichtete Becker ein prägnantes zweigeschossiges Verwaltungsgebäude in hochwertiger reformhistoristischer Gestaltung, die Fassaden durch geschweifte Giebel und Pilaster in Kolossalordnung gegliedert. Ihm ist der Eingangspavillon des Werkshaupteingangs angefügt. Das Pendant des Verwaltungsgebäudes ist die Villa Becker, das traditionsgemäße Wohnen am Werk.

Auch die weiteren Werksbauten, die sich südlich von Verwaltungsgebäude und Unternehmervilla auf einem rechtwinkligen Grundlayout erstreckten, waren bis weit in das Werksinnere mit schmuckvollen Giebeln und hochwertigem Ziegelsichtmauerwerk gestaltet. Dazu passt, dass Reinhold Becker 1910 eine 57 Seiten starke Werbebroschüre seines Werks mit dem Titel ‚Stahlwerk Becker AG Willich – Seinen Besuchern zur Erinnerung’ drucken ließ (siehe Literatur). Auch die Forschungsanstrengungen, die Beckers Unternehmen im Bereich Hochfeste Stähle unternahm, wurden in einer eigenen Reihe (allerdings erst nach Beckers frühem Tod) publiziert.

Wie seine Vorbilder expandierte Becker auch außerhalb Europas: Laut des Geschäftsberichts 1909/10 erwarb er eine Baldwin Steel Works Charleston und umfirmierte sie zur Becker Steel Works of America um (lt. Feuerhake, siehe Literatur). 1913 nutzte er – Quellen im Stadtarchiv Krefeld zufolge – die schwache Auslastung der Uerdinger Rheinhafens, um dort ein Grundstück zu erwerben, auf dem ab 1917 mit dem Bau eines Hochofen-, Martinstahl- und Elektrostahlwerks begonnen wurde. Dieses kam jedoch nur schleppend in Gang: die Inbetriebnahme der Martinöfen gelang 1918 (und damit erst nach der Kriegskonjunktur in der Stahlindustrie), das erste Anblasen des Hochofens aber erst 1921, 1922 schließlich war die Reinholdhütte ganz in Betrieb. Als privaten Wohnsitz ließ sich Becker, nachdem die Freiherren von der Leyen ihr Schloss Haus Meer nicht veräußern wollten, in dessen Nachbarschaft ab 1916 einen herrschaftlichen Wohnsitz Haus Marein errichten.

Dem baulich derart aufwändig präsentierten Unternehmen war jedoch kein Erfolg beschieden. Axel Föhl hat Reinhold Becker in einem Aufsatz mit der literarischen Figur des großen Gatsby verglichen und kontrastiert die gestalterische und konstruktive Solidität seiner Bauten mit der Filigranität seines Unternehmenskonstrukts, das nach 1918 durch Zukäufe weiter expandierte, aber in der Hyperinflation 1923 endgültig ins Straucheln geriet. Gerd Feuerhake kam 1964 in seiner Analyse auch aufgrund zeitgenössischer Wirtschaftsprüfungsunterlagen zu dem Eindruck, es mit einer Unternehmensentwicklung auf Pump, teilweise sogar einem Schneeballsystem zu tun zu haben.

Mit dem frühen Tod Beckers 1924 endet auch die Geschichte seiner Unternehmen, deren Aktienmehrheit durch die Unternehmensgruppe Michel der Düsseldorfer Unternehmerfamilie van Meeteren übernommen wurde. Die Sanierung in wirtschaftlich schwieriger Zeit gelang nicht, Ende der 1920er-Jahre übernahmen die früheren Konkurrenten um Thyssen und Krupp die Reste des Unternehmens und legten diese nach und nach still.

Das Fortbestehen der repräsentativen Bauten des Stahlwerk Beckers und Möglichkeit ihrer Revitalisierung seit der Jahrtausendwende ist jedoch einem Zufall der Geschichte geschuldet: das im Zweiten Weltkrieg wenig zerstörte Areal wurde durch die britische Rheinarmee übernommen und von diesen bis in die 1990er-Jahre genutzt. Nach der Freigabe des vormals Beckerschen Werksgeländes war die Zeit reif, diese qualitätvolle Architektur durch eine Konversion zu bewahren – ganz anders als die baulichen Reste der Reinholdshütte am Krefelder Rheinhafen, die in den 1980er-Jahren abgebrochen wurden. Nach einer gelungenen Konversion reihen sich die prägnanten Werksbauten des Stahlwerks Becker beiderseits der zentralen Achse der Schmelzerstraße, ergänzt durch gewerbliche Neubauten und eine ansprechende Freiraumplanung.

Stephan Strauß, Historische Bauwerke GbR / Krefeld + Bremen

Literatur

Strauß, Stephan: Außer Samt und Seide auch Eisen und Stahl. Notizen zur Stahlindustrie in Stadt und Kreis Krefeld. In: Walter Buschmann (Hg.): Industriekultur. Krefeld und der Niederrhein. Essen 2017, S. 187-201.

Ernst, Wilhelm: Außer Samt und Seide auch Stahl und Eisen. Die Entwicklung der Maschinen-, Eisen- und Stahlindustrie Krefelds 1835-1930 (= Krefelder Studien 9), Krefeld 1997, S. 230-294.

Feuerhake, Gerd: Stahlwerk Becker AG Willich 1908-1932, In: Heimatbuch des Grenzkreises Krefeld-Kempen 15 (1964), S. 81-90.

Karsten, Jürgen: Das Stahlwerk Becker in Willich 1908-1932, In: Heimatbuch des Kreises Viersen 33 (1982), S. 143-152.

Föhl, Axel: Der große Gatsby der Stahlindustrie oder Ein Stahlwerk - so groß wie das Ritz. Ein Beitrag zum architektonischen Corporate Image der Zwischenkriegszeit, In: Andreas Beyer, V. Magnago Lampugnani: Hülle und Fülle (= Festschrift für Tilmann Buddensieg), Alfter 1993, S. 219-229.

Morgner, Frank: Haus Marein in der Gartenstadt Meererbusch, in: Meerbuscher Geschichtshefte, H.2 (1965), S. 44-51.

Stahlwerk Becker AG (Hg.): Stahlwerk Becker AG Willich – Seinen Besuchern zur Erinnerung. Hannover 1910

Klotzbach, Arthur: Roheisen-Verband. Ein geschichtlicher Rückblick auf die Zusammenschlußbestrebungen in der deutschen Hochofen-Industrie. Düsseldorf 1926.

Faßland, Frank: Reinhold Becker (= Wirtschafts-Führer XII), In: Weltbühne 18.2 -1922, S. 136-141.

Kreisarchiv Viersen, Akten GA II Willich, Sign. 1404s

Stadtarchiv Krefeld, Bestand 4, Sign. 2777, zudem Sign. 1208, 1804, 2771, 2776 + 2272