Verseidag
Girmesgath 5, 7, 20, Industriestraße 56, Krefeld




Stefanie van de Kerkhof
Verseidag
Gründung, heutige Situation, Etablierung der Standorte und Bauten

Die Vereinigte Seidenwebereien AG – (seit 1986 offiziell Verseidag) war durch den Zusammenschluss dreier Familienunternehmen seit der Gründung 1920 in Krefeld der größte Seidenkonzern Europas und eine der größten deutschen Familienaktiengesellschaften. Alle Geschäftsanteile befanden sich bis in die frühe Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Besitz mittelständischer Familienunternehmer, deren Seidenwebereien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet worden waren. Der Konzern stellte hauptsächlich natur- und kunstseidene Stoffe für die Bekleidungs-, Schirmstoff-, Deko- und Möbelindustrie her, daneben aber auch technische Gewebe. Solche Industrietextilien gehörten schon vor dem Ersten Weltkrieg zum Produkt-Portfolio z.B. von Deuss & Oetker, die Kartuschbeutel fertigten.

Die Verseidag ging zunächst im Jahre 2002 in einer neuen niederländischen Konzernmutter, der Gamma Holding N.V., auf. Nach der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-2009 trennte die Gamma sich von den heutigen Nachfolgegesellschaften der Verseidag, die hauptsächlich Industrietextilien produzieren. Zu diesen innovativen Unternehmen zählen heute u.a. die Verseidag-Indutex GmbH (Hauptsitz Krefeld), die als einzige Nachfolgerin noch den Namen Verseidag trägt, Ammeraal-Beltech GmbH (Geesthacht), die Clear Edge Filtration Deutschland GmbH (Walbeck bei Geldern), Dimension-Polyant GmbH (Hauptsitz Kempen-St. Hubert) und die USM United Silk Mills International GmbH (Krefeld).

Die Vereinigte Seidenwebereien AG wurde am 16. September 1920 durch Aufnahme in das Handelsregister offiziell begründet (am 8. Juni 1920 erfolgte der Antrag durch den Notar). Die Gründer waren Dr. Josef Esters (1884-1966), Hermann Lange (1874-1942), Rudolf (1874-1930) und Paul Oetker (1876-1927) sowie ihre Mutter Emilie (1853-1931), die Witwe des Kommerzienrats Albert Oetker (geborene Peters). Die vier männlichen Gründer wurden Vorstände des Konzerns, Emilie Oetker erhielt wie der Krefelder Bankier Hugo Vasen (Vorsitz) und der Seidenwarenfabrikant Carl Kniffler Sitz und Stimme im Aufsichtsrat des Konzerns. Allen fünf Besitzern gehörten mehrere mittelständische Seidenwebereien, die sich am Niederrhein und im bergischen Land befanden. Die Standorte der Betriebe lagen zunächst in Anrath und Krefeld (ehem. C. Lange & Co.), Gräfrath bei Solingen, Herongen, Krefeld, Schiefbahn, Wachtendonk und Walbeck am Niederrhein (ehem. Deuss & Oetker), Krefeld und Süchteln (ehem. Esters). Hauptsitz der Gesellschaft war von 1920 bis 1943 die Krefelder Verwaltung von Deuss & Oetker in der Gartenstraße 52/Ecke Westwall, die das größte der Gründungsunternehmen darstellten und die Hälfte des Kapitals von 12 Mio. Mark hielten. Die Bauten der Seidenwebereien waren unterschiedlich ausgestattet, einige Betriebe waren am Ende des 19. Jahrhunderts von Vorbesitzern errichtet worden (z.B. in Gräfrath von Niepmann und in Walbeck von Puller & Kortum), andere wie der 16.000 qm große Websaal in Schiefbahn, der größte im Deutschen Reich, wurden von der lokal etablierten Baufirma Heinrich Kamper 1889 für Deuss & Oetker erbaut. Er ist heute durch Bebauung mit privaten Ein- und Mehrfamilienhäusern ein spannendes Beispiel für Integration industriehistorischer Baubestände in moderne Wohnformen. Auf dem benachbarten großen Parkgrundstück folgte im Jahr 1898 bereits der Bau einer Sommervilla (Haus Niederheide) für die Oetker-Familie und die 58 Häuser umfassende Werkssiedlung mit Gesellschaftshaus von Deuss & Oetker in Schiefbahn. Sie wurde vom über den Niederrhein hinaus bekannten Architekten Hugo Koch (1846-1921) geplant und gilt im Kreisgebiet Viersen als frühestes Beispiel einer Werkssiedlung (Hügen 1989, S. 83f.).

In den Krisenjahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit anhaltender Inflation, Streiks und unterschiedlichen institutionellen Arrangements der Besatzungsregime war ein wesentliches Ziel der Kooperation, gemeinsam Rohstoffe einzukaufen und Synergien realisieren zu können. Diese Strategie scheint aufgegangen zu sein, denn später traten weitere Gesellschafter in die Aktiengesellschaft und ihren Vorstand ein. So schlossen sich dem Konzern die Krefelder Seidenwebereien Richard Pastor (1922), Reyscher & Co. (1926) und Eugen Vogelsang AG (1929) sowie die Stoffdruckerei und Presserei Heinrich Heynen (1922/23) an, so dass nicht nur eine horizontaler, d.h. auf einer Produktionsstufe liegender Verbund von Seidenwebereien, sondern mit der Stoffdruckerei auch eine vertikale Erweiterung vorgenommen wurde. Ausschlaggebend für die Nachzügler bei der Fusion waren sicherlich auch Synergieeffekte, die sich durch die gemeinsamen internationalen Verkaufslager in Berlin, Breslau, London, Amsterdam, Wien und Oslo ergaben. Außerdem wurde 1923 mit dem Ausbau der Zentralwerkstatt begonnen, die die Reparatur von Maschinen und Produktionseinrichtungen vornahm und seit den 1930er Jahren auch Webstühle in Lizenz baute. Eine andere Strategie zur Absatzausweitung suchte der Verseidag-Vorstand 1928 im Erwerb der im württembergischen Spaichingen gelegenen Seidenwebereien Spaichingen GmbH, die durch eine Weberei in Hüningen im Elsaß komplettiert wurde.

Ein Verbund entstand 1922 mit der Seidenweberei Engländer, die schon bestehende Betriebe in Krefeld auf dem Nauenweg, in Thüringen in Berga an der Elster und in Creuzburg an der Werra einbrachte. Sie stellten neben Seiden- auch Wollstoffe her. Die Engländer AG wurde zunächst per Aktientausch und durch einen Sitz im Aufsichtsrat von Verseidag-Vorstand Dr. Josef Esters mit der Verseidag verbunden und brachte neben größeren Absatzmärkten auch ein erweitertes Produktportfolio in den Konzern ein. Später wurden die Eigentümer Ernst (1922) und Kurt (1932) Engländer in den Verseidag-Vorstand aufgenommen. Ende der 1920er Jahre erfolgte zudem eine Beteiligung der Verseidag am führenden Samt- und Plüschproduzenten der Region, der Girmes AG in Oedt, deren modernisierte Produktionshallen sich heute teilweise im Besitz der Verseidag-Indutex GmbH befinden.

Rationalisierung und Kriegswirtschaft

Die Verseidag begann wie viele andere deutsche Großunternehmen nach dem Ende der Hyperinflation 1923 in ihren Webereien mit verschiedenen Maßnahmen zur Rationalisierung. Der Vorstand war trotz schwieriger Finanzlage und politisch instabilen Zeiten bemüht, die Wettbewerbsfähigkeit mit der ausländischen Konkurrenz in Italien, Frankreich und der Schweiz zu verbessern. Beispielsweise wurde die Weberei in Wachtendonk 1925 voll mechanisiert und im folgenden Jahr ein neues Verwaltungsgebäude nach Entwurf des renommierten Architekten Professor August Biebricher (1878-1932) errichtet. Er war Mitglied im Deutschen Werkbund, hatte in Peter Behrens Büro gearbeitet und gehörte durch seine Ehefrau Anna geb. Scheibler zum Umfeld der mennonitischen Krefelder Seidenweber-Dynastien. Er plante auch die große Krefelder Villa von Rudolf Oetker, die im historistischen Stil mit spätbarocken Anlehnungen im Jahr 1928 auf der Hohenzollernstraße 91 errichtet wurde. Werkswohnungen für Arbeitskräfte des Betriebs und eine Kleinbahn zwischen Wachtendonk und den Werken in Kempen und Krefeld folgten kurz darauf. Die Bahn wurde „Feuriger Elias“ genannt.

Mit der Beteiligung an der Marquardt & Vasen GmbH (später Marva bzw. Marna GmbH) im Jahr 1926, die als Atelier und Dessinbüro hochwertige Kleiderstoff-Nouveautés lieferte, begann auch der stärkere horizontale Ausbau des Konzerns. Hier war der Trend von der luxuriösen und nur für wenige Konsumenten erschwinglichen Naturseide zum Massenprodukt Kunstseide ursächlich. Außerdem kamen Kreppqualitäten wie Crepe de Chine oder Crepe Marocain in Mode, die einer weiteren Bearbeitung bedurften. Die Kunstseide benötigte generell für einen natürlichen Glanz und seidigen Griff eine Reihe von Veredlungs- und Ausrüstungsschritten, die nun in einem Zentralbetrieb für die Ausrüstung an der Krefelder Girmesgath für alle Verseidag-Betriebe vorgenommen werden sollten. Siehe Verseidag zentraler Produktionsstandort. Seit 1926 wurden hier im Krefelder Stadtteil Inrath benachbart zu alteingesessenen Färbereibetrieben wie Flores verschiedene Produktionsbetriebe errichtet, in die später auch Färberei und Druckerei einzogen. Durch seine Kontakte in die Kunst- und Architekturszene lernte Hermann Lange den jungen Avantgarde-Architekten Ludwig Mies van der Rohe kennen und verschaffte ihm zunächst Aufträge für zwei private Landhausbauten für die Lange- und Esters-Familien in Krefeld an der Wilhelmshofallee (1927-1929, heute Haus Lange und Haus Esters als Teil des Kaiser-Wilhelm-Museums). Moderne Ausstellungsräume für den Verein deutscher Seidenwebereien auf der Ausstellung Mode der Dame (1927, mit Lily Reich) und der Weltausstellung in Barcelona 1929 sollten folgen. Von 1931 bis 1935 erbaute die Bau-Abteilung der Verseidag nach Plänen von Mies und mit lokalen Bauunternehmen auf diesem zentralen Firmengelände zudem ein ikonisches Verwaltungsgebäude mit Präsentationsflächen für Herrenfutterstoffe (sog. HE-Gebäude) und die ersten Shedhallen, die die einzigen Industriebauten von Mies van der Rohe weltweit darstellen.

In den wenigen prosperierenden Jahren der Weimarer Republik begann die Verseidag, ihr Produktportfolio von Krawatten-, Futter- und Schirmstoffen verstärkt auf Industrietextilien auszuweiten. Im Jahr 1928 startete der Betrieb Wachtendonk mit der Produktion von Müllergaze nach Schweizer Vorbild, später wurde sie ab 1934 in Walbeck betrieben. Damit wurden die heute noch erfolgreichen technische Gewebe ein eigenständiger Produktionszweig des Konzerns. Auf der Höhe der Weltwirtschaftskrise 1931 wurden als neues Segment die Dekorationsstoffe unter dem Markennamen „Ornata“ etabliert, die bis in die 1960er Jahre prosperieren sollten. Ein wichtiger Schritt war zudem der Kauf der ältesten Krefelder Samtfabrik vom Bruck auf der Industriestraße 56/Ecke Girmesgath, wo die Verseidag 1934/35 eine Zwirnerei einrichtete, die für Crepe-Mode unerlässlich war. An diesem Standort folgten in den Jahren 1937/38 ein kleines Verwaltungsgebäude für die zentralen Verwaltungs-Referate und weitere Sheds, deren Entwurf sich stark an Mies van der Rohe orientierte und von der Verseidag-Bauabteilung unter Erich Holthoff ausgeführt wurde. Für modische Gewebe wurde 1939 noch vor Kriegsbeginn mit der Heinrich Heynen GmbH zusammen die KRESEI Modische Gewebe GmbH gegründet, die bis 1966 v.a. modische und günstige bedruckte Stoffe für die Damenoberbekleidung produzierte.

Wie alle Unternehmen wurde die Verseidag mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft gleichgeschaltet, wobei aber weite Handlungsspielräume des Vorstands erhalten blieben, der sich durch ein System von Anreizen und Zwang hindurchlavierte. Die Aufrüstung des Reichs seit dem Vierjahresplan 1936 wurde vom Unternehmen in verschiedener Hinsicht mitgetragen, z.B. beteiligte sich die Verseidag 1936 an einem der größten Krefelder infrastrukturellen Projekte, indem sie die Uerdinger Rheinbrücke (ehemals Adolf-Hitler-Brücke) mitfinanzierte. Seit 1936/37 investierte sie mit in die Gründung der Rheinischen Kunstseide AG (Rheika), für deren expansive Rohstoffproduktion von Zellwolle und Kunstseide ein hochmodernes Werk in Krefeld-Linn errichtet wurde.

Die Verseidag war als Lieferant von international geschätzten und nachgefragten Luxus- und Massenprodukten ein Devisenbringer ersten Ranges und konnte daher ihre Exportorientierung trotz der Autarkiepolitik der NS-Regierung bis zur Kriegsmitte aufrecht erhalten. Die größte Ausdehnung der Verseidag-Betriebe war 1934 mit 6.500 Beschäftigten erreicht, danach nahm die Zahl kriegsbedingt ab (1939 6.100). In vielen Verseidag-Betrieben wurden als Ersatz für die zum Kriegsdienst eingezogenen Arbeitskräfte wie bei der Rheika im Verlauf des Krieges sowohl Zwangsarbeiter als auch Kriegsgefangene aus West und Ost eingesetzt. Zunächst erfolgten sukzessive Produktionsumstellungen auf Kriegsprodukte wie Fallschirmseide, Landkarten und U-Boot-Netze, mit Beginn des „Totalen Krieges“ gab es auch erste Stilllegungen von Verseidag-Betrieben z.B. in Spaichingen und Gräfrath. Hier zogen andere Rüstungsunternehmen wie Mauser oder Solifa ein. Am 14. Mai 1943 erfolgte wie bei vielen Unternehmen im Zweiten Weltkrieg die Umwandlung der Aktiengesellschaft in eine GmbH, die damit nicht mehr veröffentlichungspflichtig war.

Während die Verseidag zwar durchaus Interesse zeigte, aber keine Betriebe in den durch das Deutsche Reich besetzten Gebieten erwarb, war sie aber direkt und indirekt an den sog. Arisierungen (z.B. Krefelder Marquardt & Vasen GmbH, Davistan AG mit ihrem Werk Kaldenkirchen und Krefelder Krawattenfabrik Witwe F. Hertz) beteiligt. Bei der Ernst Engländer AG wurde dagegen 1943 ein Ersatzvorstand für Ernst und Kurt Engländer eingesetzt, da beide als sog. „Halbjuden“ in das Visier der nationalsozialistischen Rassepolitik geraten waren. Sie erhielten weiter Bezüge, allerdings in reduzierter Form, konnten aber der Verfolgung entgehen und wurden 1945 mit dem Kriegsende umgehend wieder als Vorstände eingesetzt. Ernst Engländer wurde erster Präsident der IHK Krefeld in der Nachkriegszeit und international geschätzter Vertreter der Textilbranche.

Zerstörung und Wiederaufbau

Bereits im Sommer 1943 gab es schwere Bombardements in Krefeld, in deren Zuge auch die Hauptverwaltung auf der Gartenstraße, Teile der Ausrüstungsbetriebe und die Bürogebäude sowie die Kreppzwirnerei auf der Industriestraße zerstört oder schwer beschädigt wurden. Weitere Betriebe am Niederrhein und in Thüringen wurden weniger stark zerstört, wurden aber mit dem Vorrücken von West- und Ostfront evakuiert bzw. verlagert (z.B. der Betrieb Walbeck nach Dhünn bei Wermelskirchen). Mit dem Kriegsende wurden zunächst die Betriebe der Ernst Engländer AG beschlagnahmt, seit 1948 von den Sowjetischen Besatzungsbehörden enteignet, ebenso wie Beteiligungen an Verkaufsbüros und Lagern in England, den Niederlanden und der Schweiz verloren gingen.

Relativ früh wurde in fast allen Betrieben 1946/47 noch vor der Währungsreform mit dem Wiederaufbau begonnen, so dass 1949 alle Verseidag-Webereien wieder instandgesetzt waren und eine stetig steigende Nachfrage bedienen konnten. Zeitverzögert begann seit 1949 auch der Wiederaufbau und die Instandsetzung der schwer zerstörten zentralen Ausrüstungsbetriebe auf der Girmesgath. Den Erfolg des Konzerns zu Beginn des Wirtschaftswunders zeigt die Eröffnungsbilanz in DM von 1951, mit der das Kapital von 1:1 auf 24 Mio. DM umgestellt und die GmbH wieder in eine AG umgewandelt wurde, die als größtes Krefelder Unternehmen in dieser Zeit zunächst noch 5.500 Angestellte und Arbeiter/innen beschäftigte.

Wirtschaftswunder und Textilkrise

Mit dem Erfolg in der Kunstseiden- und Wollstoffproduktion konnten die ersten kleineren wirtschaftlichen Krisen der 1950er und 1960er Jahre schnell überwunden werden, denn Krawatten-, Futter- und Dekorationsstoffproduktion der Verseidag florierten insbesondere in den Jahren des Wirtschaftswunders mit ihrem nachholenden Konsum. Die umfangreiche und architektonisch avancierte Bautätigkeit des Konzerns wurde in verschiedener Hinsicht in der frühen Nachkriegszeit wieder aufgenommen: 1951 wurde die Vereinigte Eigenheim GmbH als Tochtergesellschaft aus sozialen Gründen zum Bau von Mitarbeiter-Wohnungen und -Eigenheimen gegründet und 1952 in eine gemeinnützige Baugesellschaft mit vielen Bauprojekten am Niederrhein umgewandelt. Erst am 1.1.1984 wurde sie verkauft, ursächlich war v.a. das nachlassende Interesse der Belegschaft. Sie war auch teilweise beteiligt an den Bauten und Einrichtungen, die für eine Vielzahl an Freizeit- und Vereinsaktivitäten der „Verseidianer“ entstanden, in der Nachkriegszeit z.B. Tennisplätze und eine Traglufthalle in der Nachbarschaft von Girmesgath und Industriestraße.

Richtungsweisend für die frühe Nachkriegszeit war auch der seit 1951 geplante und 1956 abgeschlossene Neubau einer neuen Hauptverwaltung und Lagerflächen am damaligen Johannes-Blum-Platz, heute Konrad-Adenauer-Platz. Zunächst entstand 1951 bis 1953 ein viergeschossiger horizontaler Riegel als Verwaltungsbau, bevor 1955/56 ein acht-geschossiges Hochhaus errichtet wurde, in das neben Verwaltungs- und Präsentationsräumen auch eine Kantine und Lagerräume einzogen. Für den in der frühen Nachkriegszeit modernen ikonischen Entwurf wurden Professor Egon Eiermann (1904-1970) und Robert Hilgers, Karlsruhe, als Architekten gewonnen. Finanziert wurde die Expansion nach 1945 in zunehmendem Maße durch externe Kreditgeber wie die Deutsche Bank, die ihren Einfluss auch im Aufsichtsrat geltend machen konnte. Erst am Ende der Textilkrise, die mit dem Ende des Nachkriegsbooms am Ausgang der 1960er Jahre zusammenfiel, mussten daher für den Konzern zuvor wesentliche Bauten wie der zentrale Verwaltungsbau, einzelne Betriebe und Gewerbeflächen an neue Nutzer veräußert werden. Dies traf 1976/77 nicht nur die Hauptverwaltung von Eiermann, die an die Stadt Krefeld verkauft und zum Verwaltungsstandort umgebaut wurde. Einzelne unrentable Standorte wurden zunächst verkleinert, später wie die Betriebe am Nauenweg und der St. Töniser Straße in Krefeld, in Süchteln, Gräfrath und Wachtendonk, Kaldenkirchen und Kempen geschlossen, so dass sich die Beschäftigtenzahl schließlich bis auf 1.240 Beschäftigte (1986) stark reduzierte.

Diversifizierung und Konzernumbau

Aufgefangen wurde dieser Schrumpfungs-Prozess allerdings zumindest teilweise durch Modernisierung der noch vorhandenen Betriebe und Diversifizierung durch Zukauf auch international aufgestellter Unternehmen und die Etablierung neuer Produktionslinien, die sich allerdings nicht immer als ökonomisch erfolgreich erwiesen und später wieder abgestossen wurden. Beispielsweise wurden 1968 die N.V. Jerseyfabrik J. van Tiel en Zonen in Amsterdam gekauft, 1969 folgte die Gründung van Tiel GmbH in Wien, 1969 wurde die Gebr. Bartels GmbH, Gütersloh, angekauft und 1972 die Firmen Gerns & Gahler GmbH, Freilassing, und Gerns & Gahler Uttendorf/Österreich übernommen. Zudem beteiligte sich die Verseidag 1978 an VBL (Voss-Biermann, Lawaczek GmbH & Co. KG), die in den Flores- und Verseidag-Ausrüstungsbetrieben arbeitete. Damit erfuhr die Verseidag erneut eine enorme Ausweitung, die sich auch im Organigramm des Konzerns widerspiegelt.

Insgesamt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und forciert seit Mitte der 1970er Jahre das Portfolio von Industrietextilien durch den Einstieg in die Produktion von Segeltuch, Transport- und Antriebsbändern sowie beschichteten Textilien für Zelte, Planen und das Textile Bauen massiv ausgeweitet. Seit 1976 wurde auf der Industriestraße 56 die Verseidag-Industrietextilien GmbH aufgebaut, die verschiedene Segmente bediente und in den 1980ßer und 1990er Jahren stark expandierte, seit 1992 mit der aktuellen Ausrichtung unter dem Namen Verseidag-Indutex GmbH für beschichtete Gewebe und Standorten aktuell in Krefeld, Herongen, Oedt sowie Niederlassungen in den USA, United Kingdom, Vereinigte Arabische Emirate und China. Daneben wurde die Dimension Polyant GmbH als innovativer weltweit vertretener Produzent für Segeltuche, die Verseidag-Techfab GmbH für Sieb- und Filterstoffe und die Beltech für Transport- und Antriebsbänder gegründet. Damit war die Voraussetzung geschaffen, sich langsam aus der traditionellen Produktion von Krawatten- und Futterstoffen bis zum Beginn der 2000er Jahre zurückzuziehen und die Verseidag als Technologiekonzern für moderne textile Werkstoffe umzubauen. Der frühe Einstieg in hochmoderne profitabler Produktionsverfahren und Produkte wie Kevlar und Carbon sowie PTFE-Beschichtungen führten dazu, dass der niederländische Gamma-Konzern 1998 die Mehrheit der Verseidag-Aktien erwarb und die Nachfolgegesellschaften bis in die Gegenwart zu international geschätzten Produzenten von Industrietextilien für eine Vielzahl von Anwendungsbereichen in Industrie und Gewerbe gelten.

Internationalisierung und Globalisierung

Mit ihren Verkaufbüros und Lagerstätten war die Verseidag seit den 1930er Jahren international präsent. Die erste reguläre Auslandsvertretung wurde allerdings erst 1932 mit der United Silk Mills Ltd. in London gegründet. Weitere ausländische Töchter wurden erst in den 1970er Jahren durch Kauf bereits etablierter Unternehmen eingegliedert. Im Bereich der Industrietextilien wurde zunächst v.a. bei der Segeltuchsparte und im Belting-Bereich die Internationalisierung des Konzerns vorangetrieben und später bei der Filter- und Siebtechnik sowie den beschichteten Textilien. Diese konnten durch den international ausgerichteten Vertrieb weltweit etabliert werden. Aufgrund der neuartigen Technologien und Verfahren entschieden sich Kunden in aller Welt für die Beteiligung der Verseidag-Nachfolgegesellschaften an ihren innovativen und spektakulären Projekten in verschiedensten Anwendungen wie dem Maschinenbau, Bergbau, der Messe- und Veranstaltungsbranche, im Kraftfahrzeugbau, der Segel- und Surfbranche und – last but not least im Textilen Bauen. Zu nennen wären hier als Beispiele für die zahllosen repräsentativen Bauten, an denen die Verseidag-Indutex GmbH mit ihren beschichteten Geweben und innovativen Membranen beteiligt war, etwa die Dachkonstruktionen des Deutschen Pavillons von Egon Eiermann auf der Weltausstellung in Brüssel 1958, am Olympiapark München 1972, am Schlumberger-Research Center in Cambridge (UK) 1985, an der Grande Arche de la Défense in Paris 1989, am gigantischen Mina Tent Projekt in Saudi-Arabien (1997-1999), an der Neukonzeption des Olympiastadions Berlin 2003 des renommierten Architekturbüros von Gerkan, Marg und Partner gmp (Hamburg), am Greenpoint-Stadium der Fußball-WM in Kapstadt 2007 2009 oder der Textilakademie NRW in Mönchengladbach 2018. Diese positive Entwicklung der Verseidag-Indutex GmbH zum Global Player im Bereich Coating & Composites wurde von 2009 bis 2020 durch die Krefelder Jagenberg AG als Eigentümer mit hohen Investitionen vorangetrieben. Mitte 2020 wurde das Unternehmen an die Serge Ferrari Group S.A. veräußert. Die Dimension Polyant gelangte in die Hände der belgischen Sioen-Gruppe, die chemische Produkte und Industrietextilien herstellt, während die Verseidag-Techfab von Clear Edge erworben wurde und die Verseidag-Beltech heute als Ammeraal-Beltech firmiert. Damit sind alle Nachfolgegesellschaften der Verseidag in der Gegenwart als globale Produzenten von Industrietextilien vertreten und setzen damit die textile Tradition am Niederrhein in innovativer Weise fort.

Stefanie van de Kerkhof, Mannheim / Krefeld

Literatur:

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Hanenberg, Norbert und Daniel Lohmann (Hg., 2019): Mies im Westen – Aachen, Krefeld, Essen, Architekturführer. Düsseldorf

Hangebruch, Dieter (2005): Die Vereinigten Seidenwebereien AG (Verseidag). In: Der Niederrhein. - Teil 1 in: 72, 2, S. 66-77.- Teil 2 in: 72, 3, S. 122-132

Hügen, Ludwig (1989): 100 Jahre Deuß & Oetker / Verseidag in Schiefbahn, 1889 – 1989. Schiefbahn

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Kerkhof, Stefanie van de (2020a): 100 Jahre Innovationen in Industrietextilien. Eine Unternehmensgeschichte der Verseidag, 1920-2020 (Manuskript). Krefeld

Dies. (2020b): Regionale Industrialisierung revisited – Die niederrheinische Textilregion von der Protoindustrialisierung bis zum 20. Jahrhundert als Fallbeispiel. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2/2020, S. 319-350

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Lange, Christiane (2011): Ludwig Mies van der Rohe. Architektur für die Seidenindustrie. Berlin

Nauck, Günter (2004): Verseidag – die Geschichte eines Wandels. Metamorphose einer Krefelder "Seidenraupe" zu einer modernen Technologie-Holding. In: Die Heimat 116, S. 116-118

Reymann, Klaus (2017): Krefeld, Fabrikantenvillen am Beispiel von Verseidag. In: Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland Jahrestagung 2016, Oberhausen (Rheinland): Schall und Rauch. Industriedenkmäler bewahren. Dokumentation der Jahrestagung der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland, 13. bis 15. Juni 2016 in Oberhausen. Petersberg, S. 88-93

Stienen, Hans (1994/1996): Geschichte der Firma Lange – Verseidag Anrath. In: Anrather Heimatbuch 1994, S. 33-36 und 1996, S. 33-36

Ders. (1996): Das letzte Nachkriegsjahr und das erste Nachkriegsjahr bei der Verseidag Anrath. In: Anrather Heimatbuch, S. 55-59

Wisniewski, Claudia (2016): Kunstvolle Umhüllungen: die bedruckten Kleiderstoffe der Krefelder Verseidag 1920-1980. Marburg

Zinn, Ernst (1966): Wohnsiedlungen der Industrie im Kreis Kempen-Krefeld II. In: Heimatbuch des Landkreises Kempen-Krefeld, S. 58ff.